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1 Zwei frühe Tanzfilme von Dudley Murphy ( ): THE SOUL OF THE CYPRESS (1920) und DANSE MACABRE (1922) Jürg Stenzl (Salzburg) 1. Tanz im frühen Film Bereits das frühe, nie wirklich»stumme«jahrmarktkino seit 1896 war mit dem auch durchweg von Musik getragenen Tanz, ebenfalls keine»stumme«kunstgattung, auf vielfältige Weise verbunden. Das ist bisher durch die Film- und Tanzwissenschaft (von der Musikologie ganz zu schweigen) kaum wahrgenommen worden. Wer kann von sich sagen:»ich habe die Japanese Dancers von Edison (1897, 30 ), Lumières tanzende Nègres Ashantes (1897, 1 ), ich habe Annabelle den Butterfly-, Loïe Fuller den legendären Serpentine-Dance tanzen gesehen«? Ist es nicht erstaunlich, dass berühmte Tänzerinnen sich noch paradoxer: wie Opernsänger(innen) im frühen Film vor einer Kamera produziert haben? Es gibt bereits vor 1900 Aufnahmen von den erwähnten Damen, auch von Anna Pavlovna mit dem legendären Sterbenden Schwan, vom Petersburger und dem königlichen Dänischen Ballett. D.W. Griffith setzt die Denishawn Dancers 1916 im legendären INTOLERANCE-Film ein und 1919 parodierte Chaplin in SUNNYSIDE mit einer Traum-Tanz-Szene Nijinskys Ballets-RussesProduktion von Claude Debussys Prélude à l après-midi d un faune. Als der Film selbständig zu werden begann, in eigenen Spielstätten gezeigt wurde und damit den Anspruch zu erheben begann, eine eigenständige Kunstgattung zu sein und sich nach dem Ersten Weltkrieg vom Theater wie

2 der Literatur zu emanzipieren suchte, gab es kaum Stimmen, die eine explizite Loslösung des Films auch vom Tanz forderten. Für die filmische Theorie und Praxis verfügte der Tanz, vergleichbar der Musik, über eine»filmnähe«, die das spezifisch Filmische, das Louis Delluc u.a. in den 1920er Jahren in Frankreich»photogénie«nannten, nicht behinderte. Gerade der Film stand, durch die für ihn zentrale Bedeutung der Bewegung, dem Tanz besonders nahe. Ein weitere Vorbemerkung ist notwendig, wenn wir uns im Folgenden zwei frühen»tanzfilmen«des Amerikaners Dudley Murphy ( ) zuwenden. Bis in die 1990er Jahre galt es als ausgemacht, dass es in New York und vor allem in Europa in den 1920er Jahren neben der dominierenden Filmproduktion auch eine filmische Avantgarde gab, allerdings nicht in Hollywood. Erst David E. James hat 2005 dieses Vorurteil widerlegt und das Schaffen von avantgardistischen»independent«filmern in Los Angeles und deren erstaunliche Selbständigkeit gegenüber den New Yorker und europäischen Filmavantgarden dargestellt (James 2005). Einige dieser»independents«haben auch in europäischen Avantgarde-Produktionen entscheidend mitgewirkt; am bekanntesten geworden sind Man Ray und Dudley Murphy (gemeinsam mit Fernand Léger) als Autoren des legendären BALLET MÉCANIQUE (F 1924) mit der Musik von George Antheil, dem amerikanischen»bad boy of music«(wie er sich in seiner Autobiographie von 1945 nannte). Gleichzeitig kamen bereits in diesen Jahren zahlreiche junge Filmschaffende aus aller Welt nach Hollywood. Im Gegensatz zu der europäischen Film-Avantgarde waren die Experimentalfilmer in Kalifornien»interrelated with commercial cinema in a variety of ways«(james 2003, 25), und zwar durch ihre»expressionistischen Ausgangspunkte«wie die narrativen Dramaturgien ihrer Filme, durch ihren Blick auf ein breites Publikum und die Verwendung Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 10

3 nicht des auch bei Amateuren verbreiteten 16mm, sondern des professionellen Formats des 35mm-Films und den Bemühungen um einen entsprechenden kommerziellen Vertrieb. Der heute bekannteste dieser frühen»experimentellen«hollywood-filme ist wohl SALOMÉ von Charles Bryant (USA 1922). 2. Dudley Murphys Visual Symphonies Dudley Murphy war der 1897 geborene Sohn eines Malerehepaars, das sich um 1890 in der Pariser Académie Julien kennen gelernt hatte. Nach ihrer Scheidung zog die Mutter Caroline (Carolene) Bowles 1915 mit ihren zwei jüngeren Kindern ins kalifornische Pasadena (seit 1920 ein Vorort von Los Angeles). Bemerkenswert, dass diese freigeistige Mutter auch Kontakte mit der 1915 in Los Angeles gegründeten»school of Dancing and Related Arts«Denishawn der Tänzer Ruth St. Denis und Ted Shawn hatte. Dudley absolvierte 1917 eine Pilotenausbildung in der US-Navy, kam dadurch auch erstmals nach Europa und kehrte 1919 nach Kalifornien zurück, wo die entstehende Filmindustrie bereits 80% der weltweiten Produktion herstellte. Er war frühzeitig technisch interessiert, zudem lebte er in Los Angeles in einer Stadt mit einer Fülle religiöser Sekten:»highbrow and low, seedy and sublime, the genuine and the genuinely fake were all part of the churning, tumultuous mix«dieser Region, schrieb Murphys Biographin Susan Delson (2006, 10).1 Murphy begann 1919 als ein»movie extra«statist für zehn 1 Auch die nachstehenden biographischen Angaben sind weitgehend dieser einzigen Gesamtdarstellung von Murphys Leben und Schaffen gewidmeten Monographie entnommen. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 11

4 Dollar in Cecil B. DeMilles Film mit Gloria Swanson MALE AND FEMALE. Durch Hugo Ballin, dem (mit seinem Vater bekannten) Direktor der Goldwyn Pictures, bekam er einen Job im»drafting department«, wo er Filmkostüme entwarf, ging bald zu Fox und wurde danach bei Universal»assistent art director«. Gleichzeitig verkehrte er in den in Kalifornien hoch angesehenen, stark ästhetisch ausgerichteten theosophischen Kreisen und lernte im Studio Club eines Heims für alleinstehende Frauen, die versuchten, im Film Arbeit zu finden, die ungewöhnlich schöne,»sylphlike«-tänzerin Chase Herendeen (auch Herendon, *1901 oder 1904), bald seine erste Frau, kennen; sie war die Hauptdarstellerin als Dryade, eine Baumnymphe, seines ersten Films THE SOUL OF THE CYPRESS (DIE SEELE DER ZYPRESSE, 1921). Es war Murphy gelungen, in seinen Bekanntenkreisen die erhebliche Summe von 2000 $ aufzutreiben um eine eigene»scenic Production Company«zu gründen und mit dieser vier ungewöhnliche, von ihm»visual Symphonies«genannte Kurzfilme zu produzieren. Sie bestanden aus einer Verbindung von Film, Tanz und Musik, wobei eine einfache Handlung sich der visuellen Vielfalt der kalifornischen Küste als Ort des Geschehens bediente; zudem beruhten diese Filme auf je einem präexistenten klassischen Musikstück. Von diesen vier»visual Symphonies«ist nur die erste, THE SOUL OF THE CYPRESS, erhalten. Es folgte 1920 die zweite, APHRODITE, mit der Tänzerin Katherine Hawley, einer Schülerin von Isadora Duncans Schwester Elizabeth, Freundin von Chase Herendeen und dann Murphys zweite Gattin; APHRODITE spielt in den Höhlen von La Jolla (am Pazifikstrand, nördlich von San Diego). Die dritte»visual Symphony«war ANYWHERE OUT OF THE WORLD, erneut mit Chase Herendeen, dieses Mal als nackt badende Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 12

5 Nymphe in Canyons in der Nähe von Palm Springs. Der Titel ist Baudelaires Prosagedicht aus Le spleen de Paris,»N importe où hors du monde«(irgendwo außerhalb der Welt), entnommen. Über die verwendete Musik wissen wir nichts; auch nicht vom vierten Film, THE WAY OF LOVE, nur, dass er»the adventures of a Japanese girl and her lover and father«zum Inhalt hatte.2 Bemerkenswert ist eine Äußerung Murphys von 1922, die sich nur auf diese ersten vier Filme beziehen lässt: Er bezeichnete die»visual Symphonies«als»works of great composers, synchronized bar for bar so that they could be accompanied equally well by a single piano player or a 32-piece [sic!] symphony orchestra.«3 Man hat in jüngster Zeit die durch den Musik- und Filmkritiker Émile Vuillermoz in Paris mit den Regisseuren Dmitrij Kirsanov, Max Ophüls und Marcel L Herbier produzierten»cinéphonies«als die ersten»music Clips«bezeichnet; doch eigentlich müsste Dudley Murphy, 14 Jahre früher, dieser»ehrentitel«(sollte es denn ein solcher sein) für THE SOUL OF THE CYPRESS zukommen. 2 Zit. von Delson 2006, 20 und 195, Anm. 17 aus dem Boston Transcript, ; weitere Informationen in James 2003, 26 und 31, Anm Zit. von James 2003, 31, Anm. 4 aus» Visual Symphonies Find Recognition: New Short Subjects Replace Prologues «in Moving Picture World 54 ( ), Nr. 4, 387. James bezieht dieses Zitat allerdings auf DANSE MACABRE (»the first of these was Danse macabre«), was angesichts eines»verfilmten Balletts«keinen Sinn macht, aber, wie wir noch sehen werden, auf THE SOUL OF THE CYPRESS zutrifft. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 13

6 3. THE SOUL OF THE CYPRESS Die Transkription von Murphys erster»visual Symphony«im ANHANG 1 zeigt in der ersten Spalte die zeitliche Gliederung auf Basis der DVDEdition der Kopie in der Library of Congress in Washington DC durch Bruce Posner, in der zweiten die originalen Zwischentitel und die in eckigen Klammern gezählten zwölf Bildteile des Films mit meinen kursiven Stichworten der Handlung. Auf die Taktangaben der Partitur von Claude Debussys Prélude à l après-midi d un faune (1894), auf der THE SOUL OF THE CYPRESS beruht, werde ich noch zu sprechen kommen. Hier zunächst eine knappe Zusammenfassung der»handlung«: Die ersten beiden Zwischentitel (ab 12 44, resp mit der Bezeichnung»A Gem of the Screen«) sind erst nachträglich, nicht vor Juli 1921 eingefügt worden. Ende August 1920 hatte Murphy seinen kolorierten Film einer»small company of invited guests«in Boston vorgeführt. Im Juni/August 1921 war er, wie der Eröffnungstitel mitteilt, am Broadway erfolgreich, offenbar im Vergleich zur Version in Boston dort von angeblich zwanzig Minuten Dauer auf die Hälfte gekürzt4, was mir nicht wahrscheinlich erscheint. THE SOUL OF THE CYPRESS war Teil des New Yorker Vorprogrammes zum Hauptfilm THE CONQUEST OF CANAAN (USA 1921, Roy William Neill). Dieses Vorprogramm bestand aus einem Ballett zu Musik aus Nikolaj Rimskij-Korsakovs populärer Scheherazade, op.35, der gesungenen»serenade«i Hear a Thrush at Eve des»indianisten«komponisten Charles Wakefield Cadman (auf einen Text von Nelle 4 So Delson 2006, 23, ohne Quellennachweis. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 14

7 Richmond Eberhart). Diese»Serenade«war bereits 1904 auf einer VictorPlatte eingespielt und 1913 in Boston gedruckt worden, also sehr populär. Am Ende des Vorprogramms ein weiterer Kurzfilm, AT THE RINGSIDE (USA 1921, Charley Chase). Abb. 1: Screenshot Soul : Kalifornische Küstenlandschaft Die ersten beiden Zwischentitel von THE SOUL OF THE CYPRESS und die Bildfolgen [1] und [2] gelten der Szenerie mit dem Meer und den Zypressen, der dritte führt einen jungen Musiker ein, der hierher kam um seinen»song of the Sea«zu komponieren. (Gespielt wurde er von einem namentlich nicht genannten»young composer«-freund von Murphy.) Wir Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 15

8 sehen ihn in Bildfolge [3]. Der folgende Titel beschreibt die Wirkung seiner Musik. In [4] erscheint die von dieser Musik zum Tanz bewegte Dryade im Wechsel mit dem jungen Musiker; sie nähert sich ihm mehr und mehr, in [5] treffen sie zusammen. Abb. 2: Screenshot Soul : Die Dryade und ihre Zypresse Jetzt erläutert der Zwischentitel das bestehende Gebot: Wer sich in eine Dryade verliebt und, schlimmer noch, wer sie zu erhaschen trachtet, muss sterben. In [6] ereignet sich die Verfolgung der Dryade, die in [7] wieder im Baum verschwindet; doch sie kann ihm sagen, dass, wenn er sich ins Meer Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 16

9 stürze, er ewig mit ihr zusammen sein werde. Der Musiker ist [8] zerrissen zwischen Lebenslust und Liebe, doch er besteigt [9] den Berg und stürzt sich ins Meer.»Liebe siegt, das Leben wird dem Meer übergeben«, sagt der Zwischentitel. In [10-12] erneut Bilder von Zypressen und Meer. Der Geist des Musikers ist sein»song of the Sea«, dessen Harmonien, an die Ufer getragen, zur in der Abendsonne zuhörenden Dryade dringen und sich mit dieser»seele der Zypresse«in Ewigkeit verbindet. Abb. 3: Screenshot Soul : Die Dryade und der Song of the Sea Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 17

10 Es war wiederum David E. James,5 der auf ein älteres kalifornisches Vorbild für Murphys Naturszenerie verwies, auf die Fotographien von Anne Brigman ( ). Viele ihrer seit 1905 entstandenen Aufnahmen verbinden die wilde, unberührte Natur Kaliforniens mit nackten, antikisierten Frauen in einer Weise, die in Murphys Dryade und der erotischen Tanzthematik seiner ersten Filme nachzuklingen scheint. 5 James 2003, 27; auch Delson 2006, 18, die auf dieselben Fotographien wie James verweist. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 18

11 Abb. 4 und 5: Anne Brigman, Landscape seascaping und The Loneliness (Fotos)»Founding a film style on the portrayal of dance and in simulation of music became a recurrent avant-garde strategy, from the next year s SALOMÉ [von Charles Bayant] to today's music videos«, konnte David E. James zu Recht feststellen (James 2003, 28). Aber geht es in diesem Film wirklich um ein»portrayal of dance«, wenn der Tanz der Dryade, genau so wie das Spiel des»jungen Manns«, narrativ die Handlung umsetzt wie ein in freier Natur spielendes»ballet d action«? Ist die»simulation of music«hier nicht vielmehr eine Form der Verbildlichung der Musik für Solo-Flöte, die Debussys Prélude auszeichnet? Das Instrument eines Fauns, der (bei Mallarmé) mit seinem Spiel die Nymphe zu gewinnen sucht, hier zu einem»song of the Sea«geworden, den der junge Mann hörbar komponiert? Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 19

12 David E. James musste, als er den Film nur stumm sehen konnte, entgehen, wie weitgehend die Gliederung des Films auf der Musik beruht.6 Murphy hat sich bezeichnender Weise bereits zu Beginn der 1920er Jahre nachhaltig um neue Verfahren bemüht, die eine genaue Koordination von Film und Musik,»bar for bar«, wie er selbst äußerte, ermöglichen. Die simpelste denkbare Parallelisierung zwischen Bild und Ton findet sich hier allerdings gerade nicht, nämlich die Parallelisierung der Teile mit Soloflöte (in den T. 1-4, 11-14, und 79-83, 86-89, 94f., ) des Prélude mit dem im Bild Flöte spielenden»jungen Mann«. (Eine Übersicht der formalen Gliederung von Debussys Prélude à l après-midi d un faune im ANHANG 2.)7 Bis zum Zusammentreffen mit der Dryade ist das nur vier Mal ganz kurz (14 53, 15 30/31, 15 54/55 und ) der Fall. Die Solopassagen erscheinen ungleich stärker mit den Naturbildern vom Beginn bis und im letzten Teil des Films (18 29 bis zum Beginn von [9]) verbunden. Sehr viel deutlicher ist dagegen die Verbindung der schnellen Passagen im Mittelteil (vor allem ab T. 83) mit der Verfolgung der Dryade und der Verzweiflung des jungen Musikers nach deren Verschwinden in der Zypresse. Bemerkenswert ist die Verbindung des feierlich verklingenden Endes von Debussys Musik mit der im letzten Zwischentitel verkündeten 6 Bruce Posners Rekonstruktion des Films, die 2005 auf DVD erschienen ist, lag, als der Aufsatz von David E. James entstanden ist (und 2003 veröffentlicht wurde), noch nicht vor. Wie mir Bruce Posner freundlicherweise mitteilte, haben Dave Lewis und David Shepard die»sonorisierung«dieser Edition hergestellt. Verwendet wurde die Einspielung auf Victrola 6481 durch Leopold Stokowski und das Philadelphia Orchestra von Dabei wurde die Filmgeschwindigkeit der Musik angepasst, also genau das getan, worum sich Murphy damals intensiv bemühte. Ich möchte auch an dieser Stelle Bruce Posner für seine liebenswürdige Hilfe herzlich danken. 7 Sie ist leicht verändert entnommen meinem Kapitel 8,»Gibt es eine Interpretationsgeschichte von Claude Debussys Prélude à l après-midi d un faune«, in Stenzl 2012, 149. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 20

13 Verbindung der Soul of the Cypress mit dem Song of the Sea des Musikers»for eternity«. Naheliegend (oder gar selbstverständlich) ist Murphys Wahl von Debussys Orchesterwerk trotz seines seit seiner Uraufführung im Dezember 1894 andauernden Erfolges nicht, schon gar nicht im Kontext eines Filmes, der sich nicht an ein Avantgarde-Publikum richtet. Sicher, das antikisierende und gleichzeitig erotische Sujet in unberührter, südlicher Landschaft von Mallarmés Ekloge und Debussys»Vorspiel«zu ihr stehen sowohl Anne Brigmans Fotos wie Murphys schlichter Geschichte nahe. Und nachhaltige Wirkung hatte schon damals das noch immer aufrechte (Miss-)Verständnis von Debussys Musik als»impressionismus«. Doch ein Blick auf die über Frankreich hinausreichende Debussy-Rezeption und ganz besonders auf jene des Prélude à l après-midi d un faune erweist, dass diese Komposition seit 1912 auch nachhaltig mit der Tanzgeschichte verbunden ist. Im Falle des Prélude hatte das eine verstärkte Erotisierung dieser Musik (die Debussy nicht als Tanzmusik komponiert hat) durch Vaclav Nijinskijs Choreographie zur Folge. Im Mai 1912 war sie im Pariser Théâtre du Châtelet ein exemplarischer»succès à scandale«: in der Presse aus erotischen Gründen, in Wirklichkeit jedoch wohl sehr viel mehr (wie vergleichbar zwei Jahre zuvor Le Sacre du printemps) durch die für ein konservatives Ballettpublikum schockierende Andersartigkeit dieser Choreographie im Vergleich mit»klassischem Ballett«. In Nijinskijs Choreographie wurde, überspitzt formuliert, so wenig herkömmlich getanzt, wie in Murphys THE SOUL OF THE CYPRESS. In London galt Nijinskijs Faune als ein»danceless ballet«. Debussys Prélude ist dann oft zur Begleitung von Stummfilmen verwendet worden und diese Verwendung habe in den 1920er Jahren in Paris bereits als ein Cliché (wie diejenige Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 21

14 ausgerechnet! der Musik von Jules Massenet) gegolten.8 Abb. 6: Screenshot SUNNYSIDE, 9 25: Faun Chaplin mit Nymphen Die Ballets Russes haben Nijinskijs Produktion 1916 auch nach Amerika gebracht; sie war bis 1917 u.a. mehrmals in New York und Boston und am 26. Dezember 1916 auch in Los Angeles zu sehen.9 Dass Murphy und möglicherweise auch seine zukünftige Tänzerin-Gattin Chase Harendeen sie gesehen haben, kann man annehmen, davon gehört haben sie auf alle Fälle. Murphys Eintritt in die Armee erfolgte erst im Mai Wie bekannt 8»Debussy, joué dans les cinémas des années dix, était perçu comme un cliché dix ans plus tard, au même titre que Massenet,«notierte Giusy Pisano (2002) mit Bezug auf Christian Belaygue (1997), Claudia Jeschke, Jean-Michel Nectoux (1989), Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 22

15 Nijinskijs Faune in Los Angeles war, belegt die bereits erwähnte getanzte Traumszene mit Faun Charles Chaplin und vier Nymphen in dessen Film SUNNYSIDE von DANSE MACABRE Was Dudley Murphys zweiten erhaltenen»tanzfilm«betrifft, können wir uns kürzer fassen, denn er entspricht ungleich mehr dem, was wir heute gemeinhin unter einem»tanzfilm«verstehen. Das wenige, was wir über Murphys erwähnte, aber nicht erhaltene»visual Symphonies«wissen, lässt den Schluss zu, dass er den in THE SOUL OF THE CYPRESS geschaffenen Filmtypus beibehalten hat: Eine mit einem präexistenten musikalischen Werk zusammen gebrachte einfache Geschichte, bei der auf das durch Zwischentitel vermittelte oder zusammengefasste Sprechen und Agieren zu Gunsten einer TanzPantomime verzichtet wird. Dazu gab es in dieser Zeit eine Reihe noch ungleich stärker auf die Musik oder die darstellende Kunst bezogene Alternativen: In Los Angeles schufen die Tänzer Ted Shawn und Ruth St. Denis allerdings weitgehend ausschließlich im Theater realisierte»music Visualizations«.11 Wesentlich waren dabei seit 1916 zunächst die tänzerischen Umsetzungen von 10 Der Film ist zugänglich auf: [Stand: ], dort Grundlegend ist Jordan 1984, dem ich auch das nachstehende Zitat aus einem Artikel von Ruth St. Denis (S. 35) entnommen habe. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 23

16 Präludien und Fugen von Bach, die erstmals 1919/20 von der bezeichnenderweise damals Ruth St. Denis Concert Dancers genannten Gruppe öffentlich gezeigt wurden. Bis Ende der 1920er Jahre folgten durch das nun Denishawn genannte Ensemble Realisierungen umfangreicher, bekannter Werke wie Beethovens»Mondscheinsonate«op. 27, Nr. 2 oder Mozarts große g-moll-sinfonie, KV 550, aber auch Zeitgenössisches wie Arthur Honeggers Pacific 231 (1929) und Werke von Reger, Scriabin, Satie und Prokofiev. (Sechzehn dieser von Jacques-Dalcroze und vor allem Isadora Duncan beeinflussten Produktionen sind filmisch dokumentiert.) Ihr Verständnis der»music Visualization«hat Ruth St. Denis selbst unmissverständlich definiert: Music Visualization in its purest form is the scientific translation into bodily action of [the] rhythmic, melodic and harmonic structure of a musical composition, without intention to in any way interpret or reveal any hidden meaning apprehended by the dancer. Each note must have its correlative translation an eighth note has a definite length, and its Visualization must be a movement exactly as long The raise and fall of the melody should have some answer in the rise and fall of the body above the plane of the stage. Das schloss allerdings in der Praxis eine Überlagerung durch dramatische oder andere auch narrative Ideen nicht völlig aus. Doch für die Produktion (1919) von Schuberts»Unvollendeter«Sinfonie gingen St. Denis und Shawn so weit, dass ihre tänzerische»translation«ein»synchoric orchestra«erforderte. Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 24

17 Abb. 7: Denishawn, Schubert, Unfinished Symphony (1919) Doch Dudley Murphy vollzog mit seinem 1922 entstandenen nächsten Film einen einfacheren Schritt. Ausgangspunkt seines DANSE MACABRE war die gleichnamige sinfonische Dichtung für Orchester von Camille Saint-Saëns, op. 40, und deren Ballett-Produktion durch den Choreographen russischer Herkunft Adolph Bolm ( ). Er hatte 1917 während der USATournee die Ballets Russes verlassen, gründete im gleichen Jahr in New York sein Ballet Intime und arbeitete ab 1919 in Chicago. Dort choreographierte er mit der bald sehr berühmten Tänzerin Ruth Page und dem Schauspieler Olin Howland 1920 Danse macabre. Saint-Saëns hatte für Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 10, 2013 // 25